
Das regnerische Wetter sei genau richtig für eine Lesung, meinte Cerrin Wehrmann-Ristau, als sie Christian Berkel in der Heinz-Sielmann-Schule begrüßte. Fotos: kd
Eine Art von Autobiografie
Herzlicher Empfang für Christian Berkel
Oerlinghausen (kd). Welch ein herzlicher Empfang – mit stürmischem Applaus wurde Christian Berkel schon zu Beginn seiner Lesung begrüßt. Nicht nur die 200 Zuhörer in der Heinz-Sielmann-Schule waren fasziniert, als der Schauspieler und Buchautor die Aula betrat. Auch Buchhändlerin Cerrin Wehrmann-Ristau meinte: „Ich bin wirklich begeistert, dass es gelungen ist, ihn zu einer Lesung einzuladen.“
„Sputnik“: Familiengeschichte zwischen Autobiografie und Fiktion
Nach „Der Apfelbaum“ und „Ada“ hat Berkel kürzlich den dritten Teil einer Familiengeschichte vorgelegt. Die Geschichte seiner Familie? Der Entwicklungsroman „Sputnik“ sei zwar eine Form von Autobiografie, doch an entscheidenden Stellen habe er zur Fiktionalisierung gegriffen, erläuterte der Autor vorab. Zum Beispiel wird eine Schwester namens Ada eingeführt. „Ich habe aber keine Schwester, die Person ist also komplett erfunden“, sagte Berkel. Auch Einzelheiten wie die Schilderung der Lagerhaft und der Kriegsgefangenschaft der Eltern seien nachempfunden. „Der Grund liegt auf der Hand, denn bei uns wurde über diese Zeit einfach nicht gesprochen“, erklärte er. „Ich bin mit Schweigen aufgewachsen.“ Das sei auch eine Art, mit den Traumata umzugehen.
Die Bedeutung des Titels und das Thema Trennung
Der Buchtitel „Sputnik“ bezieht sich auf ersten Raumflugkörper, der in seinem Geburtsjahr 1957 gestartet war. Für die Lesung hatte Berkel zunächst das Kapitel ausgewählt, in dem er seine eigene Geburt beschreibt. Mit viel Phantasie malt er seine Zeit im Mutterleib aus, gibt die Gedanken des Fötus wieder und findet bildreiche Ausdrücke, um den Geburtsvorgang als gewaltiges Erlebnis darzustellen. „Damit war die vollkommene Symbiose mit einer anderen Person beendet“, lautete die Interpretation Berkels. Es sei im Prinzip nichts anderes die Vertreibung aus dem Paradies. „Das Leben beginnt gleich mit einem Trennungsvorgang“, meinte der Autor. „Und die Hinwendung auf das Ende trainieren wir ein Leben lang.“
Identitätssuche in der Fremde: Paris und der Phantomschmerz
Berkel ging dann auf die Zeit ein, die sein Romanprotagonist in Paris verbringt. Bereits mit 14 Jahren wendet er sich von seinem deutsch-jüdischen Elternhaus ab, um seine eigentliche Identität zu suchen. Doch in Frankreich wird er trotz seiner akzentfreien Aussprache weiterhin der Deutsche bleiben. Diesen Prozess macht Berkel am Beispiel eines Kriegsveteranen anschaulich, der ein Bein verloren hat. Die Sehnsucht, französisch zu wirken, sei vergleichbar mit dem Phantomschmerz. „Es ist etwas weg, im Kopf aber trotzdem noch vorhanden“, sagte er.
Publikum begeistert von Berkels Vortrag und Stimme
Es sei schon ein besonderes Erlebnis, dass ein ausgebildeter Schauspieler und Sprecher, den Text vortrage, meinten die Zuhörer. „Ich liebe die Sprache“, meinte Ute Haake, die mit drei Freundinnen aus Lemgo gekommen war. „Es ist einfach wunderbar, die Stimme nimmt mich ganz gefangen.“ Bärbel Meyer aus Oerlinghausen wollte „Sputnik“ wegen der akustischen Eindrücke am liebsten als Hörbuch kaufen. Nicole Stölting sagte: „Ich kenne schon das erste Buch, die Familiengeschichte macht neugierig. Deshalb muss ich auch noch die Fortsetzung lesen.“
Appell für Austausch und gegen Sprachlosigkeit
Der Mensch verfüge die Sprache nicht umsonst, meinte Berkel, indem er sich an sein Publikum wandte. „Ich fürchte, wir leben wieder in einer Zeit der Sprachlosigkeit“, sagte er. „Ein Schweigen zwischen Andersdenkenden.“ Dabei umfasse Sprache doch auch den Austausch und die Auseinandersetzung. So werde gelernt, anzuhören und auszuhalten. „Sonst vertrocknet unsere Demokratie, man kann auch als Einzelner eine Menge dafür tun“, appellierte Berkel.



